Wie viel Erdgas lässt sich kurzfristig in Deutschland ersetzen und einsparen? Dieser Frage ist der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) nachgegangen. Ergebnis der Analysen: Insgesamt lässt sich kurzfristig rund ein Fünftel des gesamten deutschen Gasbedarfs substituieren oder einsparen. Dies entspricht einem Drittel der Gasimporte aus Russland im Jahr 2021, als Lieferungen aus Russland einen Anteil von 55 Prozent am gesamten Gasverbrauch in Deutschland hatten. Seit Oktober 2021 haben sich die Lieferungen aus Russland allerdings vermindert, der Importanteil liegt aktuell unter 40 Prozent. „Bei einem dauerhaften Importanteil von 40 Prozent entspräche das Substitutions- und Reduktionspotenzial etwa der Hälfte der russischen Gaslieferungen“, berichtet der BDEW.
Die mengenmäßig größten Potenziale kommen demnach aus der ungekoppelten Stromerzeugung gefolgt von den privaten Haushalten. „Beim aktuellen Preisniveau für Erdgas im Großhandel wird dieses Potenzial derzeit vermutlich bereits marktlich teilweise erschlossen“, heißt es in der Analyse des Energieverbands. Insgesamt könne die entfallende Stromerzeugung aus Gaskraftwerken mit vorhandenen Erzeugungskapazitäten kompensiert werden.
Kunden aus Haushalten und grundlegenden sozialen Diensten stehen mit §53a EnWG unter besonderem Schutz. Sie haben einen Anteil von knapp der Hälfte am deutschen Gasverbrauch und müssen mit den noch verfügbaren geringeren Erdgasmengen versorgt werden. Hingegen würde die Industrie von einer Liefereinstellung voll getroffen werden „ohne realistische kurzfristige Optionen einer Energieträgersubstitution“, heißt es im BDEW-Papier. Es bestünde die Gefahr von Produktionseinschränkungen, Betriebsstillegungen und Unterbrechungen von Lieferketten als unmittelbare Folge.
Industrie: Kurz- und mittelfristiges Einsparpotenzial nur bei 8 Prozent
Insgesamt ist das kurz- bis mittelfristige Substitutionspotenzial für Erdgasanwendungen in der Industrie laut BDEW mit 8 Prozent des gesamten industriellen Erdgasverbrauchs relativ gering. Der industrielle Erdgasverbrauch hat einen Anteil von rund einem Viertel (ohne Brennstoffeinsatz für die Stromerzeugung in Industriekraftwerken) am gesamten deutschen Erdgasverbrauch. Erdgas wird in der Industrie überwiegend zur Erzeugung von Prozesswärme auf hohem Temperaturniveau benötigt. Hierbei handele es sich um sehr spezialisierte Produktionsverfahren, so dass eine Substitution des Energieträgers Gas in der Regel nur durch Neuinvestitionen in alternative Prozesstechnologie möglich sei.
- Inzwischen 330 Netzwerke in Initiative Energieeffizienz
- Energieeffizienz: Investitionsbereitschaft der Unternehmen steigt deutlich an
- Energiekosteneinsparung: Unternehmen sollten nicht auf das Aus für die EEG-Umlage warten
- Netzdienliche Molkerei: Energiespeicher senkt Energiekosten bei Zott in Günzburg
- Energiebranche und Industrie entwickeln gemeinsame Strategien zur Dekarbonisierung
Der größte Teil der Erdgaskraftwerke müsse wegen der Sicherstellung der Wärmeversorgung von Bevölkerung und Betrieben über Kraft-Wärme-Kopplung weiter betrieben werden, führt der BDEW aus. Das Substitutions- und Reduktionspotenzial betrage 36 Prozent des Erdgasverbrauchs der Kraftwerke der öffentlichen Versorgung und in der Industrie.
Bestand und Reservekraftwerke können wegfallende Stromerzeugung kompensieren
Die wegfallende Stromerzeugung aus Gaskraftwerken lasse sich marktlich durch eine höhere Auslastung der Bestandskraftwerke im Markt und/oder der Nutzung der Reservekraftwerke ersetzen. Dabei seien regionale Aspekte bzw. die Standorte der Erzeugungsanlagen (z.B. im Hinblick auf die Systemsicherheit in den Stromnetzen) für die Bewertung zu berücksichtigen.
Kurzfristiges Einsparpotenzial liege im Wärmebedarf der Haushalte und des Sektors Gewerbe/Handel/Dienstleistungen (GHD), „dies kann über Verhaltensänderungen zumindest zu einem Teil erschlossen werden“, heißt es. Rund 21 Mio. private Haushalte in Deutschland nutzen Erdgas. Die Haushalte verbrauchten 2021 insgesamt rund 310 TWh Erdgas, zum weitaus größten Teil für Raumwärme (ca. 80 Prozent) und Warmwasserbereitung. Insbesondere bei der Raumwärme beständen große Einsparpotenziale. Große Teile davon sind kurzfristig erschließbar, sie werden aber durch Komfortbedürfnisse und Verhalten sowie die technische Ausstattung bestimmt. „Hier könnte kurzfristig etwa eine massive Einsparkampagne der Bundesregierung ansetzen.“
Verhaltensänderungen können bei Haushalten Einsparungen bewirken
Darüber hinaus würden die zu erwartenden massiven Preissteigerungen für Heizenergien das Energiesparen in den Haushalten weiter befördern und auch direkte Substitutionsprozesse durch Zusatzheizungen (z. B. Holz, elektrische Heizlüfter etc.) auslösen. Insgesamt könne ein Reduktionspotenzial in den Haushalten von ca. 15 Prozent angenommen werden. Beim Sektor GHD könne mit ca. 10 Prozent Einsparpotenzial gerechnet werden.
Zurzeit werden in Deutschland rund 83.000 Erdgas-PKW genutzt. Dazu kommen erdgasbetriebene Busse im öffentlichen Nahverkehr. „Ein Wegfall dieser Fahrzeuge wäre unter Umständen als Sofortmaßnahme möglich“, so der BDEW weiter. Das gesamte Einsparpotenzial sei mit rund 2 TWh allerdings sehr gering.
Optionen auf Angebotsseite: Inländische Förderung und Importe aus Drittstatten
Angebotsseitig könnte einer Steigerung der Fördermenge von inländischen Erdgas um 5 bis 10 Prozent erreich werden. Das inländische Erdgas kommt 2021 allerdings nur auf einen Anteil am Erdgasverbrauch von rund 5 Prozent. Importe aus den Niederlanden und Norwegen könnten ebenfalls gesteigert werden. „Kurzfristig könnten die Niederlande die Produktion im Groningen-Feld ausweiten“, schreibt der BDEW. „Für den europäischen Markt wären zudem insbesondere mehr LNG-Importe und geringe Mehrmengen aus Algerien erzielbar.“
Aktuell beziehe Europa auch verstärkt Flüssigerdgas via Großtanker aus den USA und Katar. Insbesondere dort und in Australien seien Produzenten in der Lage, ihre Angebotsmenge kurzfristig auszuweiten. „Es besteht somit die Möglichkeit, zusätzliche Flüssigerdgas-Mengen zu beziehen – allerdings bei voraussichtlich hohen Preisen.“ Zu beachtende Engpässe seien die weltweite Nachfrage sowie die Verfügbarkeit von LNG-Schiffen, Terminals und Transportleitungen.
Andreae: Biogas als Alternative nur begrenzt verfügbar
„Wir können den Import russischen Erdgases Stand heute nur zum Teil ersetzen“, betont BDEW-Hauptgeschäftsführerin Kerstin Andreae. Alternativen wie Flüssigerdgas könnten helfen, fehlende Mengen auszugleichen. Eine Ausweitung der inländischen Förderung sei begrenzt bzw. unsicher. „Auch Optionen wie zum Beispiel Biogas stehen insbesondere kurzfristig nur begrenzt zur Verfügung.“ Hier müssten mit Blick auf den Anbau von Energiepflanzen „auch ökologische Aspekte und mögliche negative Folgen für die Wasserressourcen bedacht werden“, so der BDEW weiter.
- Welche Rolle kann heimisches Biogas als Alternative zu russischem Erdgas spielen?
- EEG-Novelle und Energiekrise: Wie lässt sich die Abhängigkeit von russischem Gas senken?
- Entwürfe für EEG und WindSeeG: Weichenstellungen inmitten massiver Unsicherheit
- EEG-Novelle: Mehr Biomethan – aber weniger Biogas– und Biomasseleistung angestrebt
- „REPowerEU“: Europäische Kommission setzt auf Biomethan, Wasserstoff und LNG
Die Energiewirtschaft arbeite mit Hochdruck daran, kurzfristig Energiemengen aus Russland zu substituieren und einzusparen und mittel- bis langfristig unabhängig von fossilen Rohstoffen und damit auch von russischen Importen zu werden. „Der Aufbau von zwei LNG-Terminals, die Erhöhung der Importmenge aus anderen Ländern und eine nachhaltige Sicherung der Füllstände in den Gasspeichern sind unabdingbar.“
„Sämtliche Weichen in Richtung Ausbau der Erneuerbaren legen“
Dauerhaft unabhängiger zu werden, heiße aber auch, jetzt sämtliche Weichen in Richtung Ausbau der Erneuerbaren zu legen. Es müsse so schnell wie möglich mehr Fläche für Erneuerbare-Energien-Anlagen ausgewiesen werden. „Und es muss sichergestellt sein, dass das Ziel, 2 Prozent der Flächen in Deutschland für regenerative Energieerzeugung bereitzustellen, auch wirklich vollständig geschafft wird und nicht im Verfahrensweg schrumpft.“
Im Wärmesektor werde eine beschleunigte Altbausanierung und die Ablösung fossiler Technologien durch klimaneutrale Systeme jetzt noch wichtiger. Zudem müssen die Bedingungen für Netzausbau und Wasserstoff-Hochlauf schnellstens verbessert werden. „Das Motto kann jetzt nur noch heißen: Beschleunigung jetzt!“