Deutsche Energieexperten glauben mehrheitlich, dass Deutschland seine Führungsposition bei der dezentralen Energiewende ganz oder zum Teil verloren hat. International wird Deutschland hingegen weiterhin als führend bei der dezentralen Energiewende gesehen. Dies ist ein Teilergebnis einer Befragung im Rahmen der Forschungsinitiative „Global Initiative for Distributed and Local Energy (DALE) – The German Perspective“ am Reiner Lemoine Institut in Berlin.
Bemerkenswert sei zudem, dass Deutschland aus der Sicht von einheimischen Experten insbesondere bei den vermeintlichen Zukunftstechnologien wie Speichern, Digitalisierung oder dezentralen Netzen im internationalen Vergleich als rückständig wahrgenommen werde, so die Projektbeteiligten.
Im Rahmen des deutschen DALE-Projekts wurden mehr als 100 deutsche und knapp 50 internationale Experten aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft aus 26 Ländern um eine Bewertung dezentraler Ausbauansätze in Deutschland gebeten. Während rund 60 Prozent der internationalen Befragten Deutschland als führend bei der dezentralen Energiewende bewerten, wollen sich nur fünf Prozent der deutschen Befragten dieser Aussage anschließen. Relativ eindeutig erscheint den Projektbeteiligten dabei, dass die Umsetzung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) und der schnelle Ausbau der Erneuerbaren Energien auf einen Anteil von rund 35 Prozent die Wahrnehmung Deutschlands als Vorbild begründen.
Regulatorische Strukturen der „alten Energiewelt“ hemmen Dezentralisierung des Marktes
Als hemmend werden im Inland insbesondere die regulatorischen Hürden empfunden – knapp 40 Prozent der Befragten nannten diesen Aspekt als oberste Hürde. So seien nur 9 Prozent der Befragten der Auffassung, dass die verantwortlichen politischen Institutionen, wie das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) oder die Bundesnetzagentur (BNetzA), dezentrale Energiemärkte wollen und diese fördern. Die breite Mehrheit von 61 Prozent habe dies verneint. Die neue Energiewelt mit dezentralen Akteuren und Technologieanwendungen pralle somit nach Auffassung der Mehrheit der Experten auf regulatorische Strukturen der „alten Energiewelt“, die eine weitere Dezentralisierung des Marktes behinderten.
Stromnetze bleiben das Rückgrat einer sicheren Versorgung
Unzweifelhaft sei, dass die Stromnetze auch in der dezentralen Energiewelt das Rückgrat für eine sichere Versorgung blieben. Insbesondere in Deutschland, da hier aufgrund seiner geografischen Lage mit ausgeprägten Jahreszeiten einfache, dezentrale Autarkielösungen – etwa auf Basis von PV-Batteriesystemen – keine Option seien. Daher zählten der Ausbau und die Refinanzierung der Netzinfrastruktur zu den zentralen Fragen, die sich im Energiemarkt stellten.
Stellschrauben: Reform der (Netz-)Entgelte sowie rechtlicher Rahmen für Direktstrommärkte
Insgesamt seien zwei konkrete Stellschrauben identifiziert worden, die mehrheitlich als wichtig bewertet wurden, um die Voraussetzungen für das Gelingen der dezentralen Energiewende in Deutschland zu schaffen: Zum einen eine Reform der (Netz-)Entgelte und Umlagen und zum zweiten die Schaffung rechtlicher Rahmenbedingungen für Direktstrommärkte.
Das Ergebnis der Befragung verdeutliche zudem, dass der Blick über den Tellerrand aus einer deutschen Perspektive heraus von hohem Interesse sei. Expertise über die weitere Entwicklung des Energiemarkts gelte es daher nach Auffassung der Mehrzahl der befragten deutschen Experten auch im Ausland zu sammeln. Welche Länder und Märkte aus der deutschen Perspektive als Vorbilder für dezentrale Lösungen gelten, sei dabei nicht eindeutig zu identifizieren, so die DALE-Beteiligten. Denn den einen internationalen Vorreiter für Dezentralität gebe es nicht.
►Dezentrale Handelsstrukturen in Estland, Italien, Österreich oder den Niederlanden
►Regionale Strombörsen und Flexibilitätsverpflichtungen in China
►Eigenverbrauchs- und Nachbarschaftskonzepte in den Niederlanden, Griechenland oder der Schweiz
►Anreize für Speichertechnologien in den USA oder Großbritannien
►Echtzeit-Bilanzsysteme in den Niederlanden und Australien
►Beteiligung von Kommunen und Bürgern in Dänemark und Belgien
►Innovationsanreize für Smart Grids in den USA, Schweden oder Australien
►Konsequenter Einsatz von Smart Metern in Italien oder Kenia
►Regelungen für Blockchain-Anwendungen und Peer-to-Peer-Netzwerke in Rumänien oder den USA
Lokale Akteure wichtigster Treiber der Dezentralisierung in Deutschland
Als wichtigsten Treiber der Dezentralisierung in Deutschland identifizierten die befragten Experten die lokalen Akteure gefolgt von der technischen und wirtschaftlichen Machbarkeit. Die gesellschaftliche Unterstützung für die dezentrale Energiewende sei in der Wahrnehmung der Befragten weitestgehend vorhanden. Das EEG mit Einspeisevorrang und fester Vergütung seien in der Vergangenheit weitere wesentliche Treiber für die vermehrte dezentrale Energieerzeugung gewesen.
Insbesondere von der weiteren Kostenreduktion der erneuerbaren Stromerzeugung und der kleinteiligen Einsetzbarkeit gingen künftig Impulse für dezentrale Energiemärkte aus, so die Experten. Zudem werde erwartet, dass in Anwendungen für die Wärmeversorgung über die Sektorenkopplung ein wichtiger Ausgangspunkt für dezentrale Lösungen im Strommarkt entstehen werde.
Dezentralität geht weit über kleinteilige Stromproduktion hinaus
„Die Studie zeigt, dass Dezentralität für ein energiewirtschaftliches Gesamtkonzept steht, das weit über die kleinteilige Stromproduktion hinausgeht“, erklärt Projektleiterin und Geschäftsführerin des Reiner Lemoine Instituts Berlin Kathrin Goldammer. „Noch finden die deutschen Errungenschaften beim Ausbau der Erneuerbaren Energien und der Bürgerbeteiligung weltweit Beachtung, doch andere Länder gehen besser mit neuen Aspekten, wie etwa Lastmanagement oder Digitalisierung um. Das fällt in Fachkreisen immer deutlicher auf – aus deutscher Perspektive lohnt also der Blick auf andere Ländern, um den Anschluss nicht zu verlieren.“
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